Dienstag, 8. September 2009

Zahn um Zahn?

Als sie vor der Leichenhalle stehen, ergreift Gabriela das Wort als Erste: „Es ist schon eigenartig,“ sinniert sie mehr zu sich selbst als zu Pitt und Harry, „ich kann mich gar nicht richtig daran erinnern, dass der Tote da drin irgendwie mein Vater gewesen sein soll. Für mich war er immer ein karrieregeiler Typ, der bei uns zu Hause gegessen und übernachtet hat, und sonst nichts. Es drehte sich immer nur alles ums Geschäft, und wie man mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel Ertrag erwirtschaftet.“ Gabriela schlendert bei diesen Worten ziellos vor sich her, flankiert von den beiden Polizisten. „Ich habe ihn nie als fürsorglichen Vater erlebt, der Interesse an mir und meinem Werdegang zeigte, der nie mit mir gespielt hat oder nie die Hausaufgaben mit mir zusammen gelöst hat. Es war mir, als sei ich Luft für ihn gewesen. Ich hatte den viel engeren und freundschaftlicheren Kontakt mit den Hausangestellten, vor allem, nachdem meine Mutter gestorben ist, als ich noch ein Kind war.“ Bei der Erinnerung an ihre Mutter bleibt Gabriela stehen, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen. „Ich bin heute noch überzeugt davon, dass mein Vater schuld ist am frühen Tod von Mama.“

„Wie kommst du denn auf die Idee?“ fragt Pitt mit einem besorgten Blick.

„Ich weiss auch nicht genau,“ antwortet Gabriela frustriert, „es ist die Art, wie er ihren Tod zur Kenntnis nahm, etwa so, wie wenn er dem Personalchef gesagt hätte, dass er zwei Angestellte entlassen musste. So etwas liess ihn auch immer völlig kalt. Der Mensch und sein persönliches Schicksal interessierten ihn überhaupt nicht.“ Während Gabriela redete, steigerte sie sich langsam in eine unbändige Wut hinein. Ihre Stimme wurde mit jedem Satz lauter. „Er sah nur den Profit. Dafür ging er sogar über Leichen. Wegen ungenügender Schutzvorrichtungen an einem der Hochöfen kam es vor Jahren zu einem Unfall, bei dem drei Arbeiter ihre Arme und das Augenlicht verloren, weil flüssiger Stahl auf sie gespritzt ist. Das Ganze wurde mit Schmiergeld vertuscht, da die drei Arbeiter auch noch schwarz in der Firma arbeiteten, weil sie keine Niederlassungsbewilligung hatten. Es dauerte keine Woche, und die drei waren nur notdürftig medizinisch versorgt schon in ihre Herkunftsländer abgeschoben.“ In ihrer Erregung schreit Gabriela den letzten Satz beinahe. Mit verschwitztem Gesicht betrachtet sie Pitt und Harry, die vor ihr stehen. Pitt macht einen Schritt auf sie zu und nimmt sie tröstend in den Arm. Dort verliert sie endgültig ihre bisher erfolgreiche Selbstbeherrschung und beginnt bitterlich zu weinen.


Nach wenigen Minuten löst sie sich langsam von Pitt und schneuzt sich in das ihr von Harry gereichte Taschentuch.

„Geht es wieder ein wenig besser?“ fragt Pitt besorgt, „Sollen wir dich nach Hause bringen?“

„Nein, ist schon gut, es geht wieder,“ erwidert Gabriela mit einem Kopfschütteln, „was soll ich denn jetzt dort? Allein?“ Sie fährt sich mit dem Handrücken über die Nase und wischt die letzten Spuren der Tränen mit dem Taschentuch ab. „Ich bleibe lieber bei euch beiden.“

„Ist mir ehrlich gesagt auch lieber,“ meint Pitt. Er blickt zu Harry und fragt: „Was meinst du? Wie weiter jetzt?“

„Gute Frage,“ antwortet Harry gedehnt. „wir haben einen Entführer, der ums Verrecken nicht reden will, mit oder für wen er arbeitet. Und nun haben wir auch noch einen Hauptverdächtigen auf ziemlich brutale Art und Weise verloren. Der Moser wird bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Aber wozu werden ihm sogar die Zähne ausgerissen, wenn ein paar Meter weiter seine Brieftasche liegt mit mehreren hundert Euro und all seinen Ausweisen.“ Mit jeder Aufzählung hält Harry einen weiteren Finger seiner Hand in die Höhe. „Und der Schreiner behauptet, von dem Moser noch nie etwas gehört zu haben und macht gleichzeitig mit der Isabella Säger rum die wir schon zusammen mit dem Moser beobachtet haben.“ Harry Gesicht zeigt die Resignation nur zu deutlich.


Plötzlich verändern sich die Gesichtszüge von Gabriela und bekommen ein hartes, konzentriertes Aussehen. Sie beginnt langsam auf dem Bürgersteig hin und her zu gehen.


„Was ist los?“ fragt Harry.

„Lass mich ein wenig nachdenken,“ antwortet ihm Gabriela, „jetzt wo Harry etwas über die Zähne meines Vaters erwähnt hat, ist es mir, als sei mir etwas in den Sinn gekommen, das ich vor langer Zeit einmal gehört habe.“ Sie bleibt stehen. Ihr Blick schweift in die Ferne, weit weg in die Vergangenheit zu jenem besonderen Ereignis. „Ich kann mich schwach daran erinnern, dass mein Vater einmal Besuch zu Hause hatte. Geschäftlich natürlich. Da ich ihn so selten sah, horchte ich, neugierig wie ich nun mal war, an der Türe, die nur angelehnt war. So hatte ich wenigstens das Gefühl, etwas Zeit mit ihm zusammen zu verbringen.“ Die Augen von ihr sehen die Situation von damals genau vor sich, wie sie ganz vorsichtig die Türe etwas weiter öffnete, um ihren Vater zu sehen. Er sass in einem grossen Sessel, die Beine übereinander geschlagen, ihm gegenüber zwei Männer auf dem Sofa, die Gabriela aber von ihrer Position aus nicht richtig sehen konnte. „Was mir jetzt in einem völlig neuen und anderen Licht erscheint, ist eine Handbewegung und der dazu gesprochene Satz meines Vaters.“

„Jetzt bin ich aber gespannt,“ flüstert Pitt. Auch Harry hat sich näher an Gabriela gestellt, um nichts Wichtiges zu verpassen.


„Mein Vater hat an diesem Abend zu den beiden Typen gesagt: „Die Lieferung erfolgt wie immer absolut sicher und diskret“ und hat sich dann mit dem Zeigefinger gegen seine zusammen gebissenen Zähne geklopft.“

Pitt und Harry sehen zuerst sich und dann Gabriela fragend an.

„Ich dachte bis jetzt ja auch, dass das irgend so eine verrückte Marotte von meinem Vater war, vielleicht weil sie Glück bringen sollte oder so was in der Art. Vielleicht haltet ihr mich jetzt für völlig durchgeknallt. Aber was ich bis heute nie ganz begriffen habe war die Tatsache, dass mein Vater schon in jungen Jahren alle seine Zähne durch Goldene hat ersetzen lassen.“

„Ich glaube, ich weiss langsam, worauf du hinaus willst,“ sagt Harry zu Gabriela, „warum sollte man sich gesunde Zähne durch künstliche ersetzen lassen, ohne dass eine bestimmte Absicht dahinter steckt.“

„Richtig,“ ereifert sich Gabriela, „vor allem, wenn man weiss, dass mein Vater nichts gemacht hat, ohne dabei einen grossen Vorteil zu erringen.“

Harry, mittlerweile schon ziemlich genervt, unterbricht die beiden ziemlich harsch. „Hätte einer von euch beiden vielleicht die Güte, mir mit einfachen Worten zu erklären, woher euer plötzlicher Aktionismus herrührt? Ich verstehe hier nur Bahnhof.“


Gabriela stellt sich vor Harry und beginnt zu erklären: „Schau mal, mein Vater kam von der Schule und absolvierte eine Lehre als Bürogummi in einem Reisebüro. Danach arbeitete er ein paar Jahre als Aussendienstmitarbeiter in einer Firma, deren Name ich nicht mehr weiss. Dabei reiste er kreuz und quer über den Globus und lernte so die Welt und nebenbei auch noch meine Mutter kennen. Kurz darauf war auch ich schon unterwegs. Da wurde mein Vater sesshaft und begann bei der RUAG zu arbeiten. Diese Firma stellt verschiedene Waffen und Systeme für die Schweizer Armee her und entwickelt auch Neuheiten und Technologien, die teilweise auch ins Ausland verkauft werden. Wenige Jahre danach kam dann der plötzliche Wechsel zu der Eisenhütten AG in Duisburg, die damals finanziell nicht so rosig da stand. Und wie durch ein Wunder schaffte es mein Vater, diese Firma wieder in die schwarzen Zahlen zu manövrieren.“

Harry schüttelt den Kopf und meint: „Das ist ja eine Geschichte wie aus dem Bilderbuch, nur sehe ich bis jetzt nicht, was das Ganze mit den Zähnen von ihm zu tun hat.“

Gabriela legt Harry beruhigend die Hand auf den Arm und erklärt: „Was mir komischerweise erst jetzt auffällt, ist die Tatsache, wie es ein einfacher Angestellter in der Schweiz schafft, einfach so eine ganze Fabrik in Duisburg übernehmen zu können, ohne dass er im Lotto gewonnen oder die Firma vererbt bekommen hätte.“

Pitt macht ein fragendes Gesicht, als er Gabriela anspricht: Wie ist er denn deiner Meinung nach dort rein gerutscht? Mit Beziehungen oder mit unlauteren Methoden?“

„Das ist genau das, was ich mich jetzt auch frage,“ antwortet Gabriela. „Ihr wart doch auf der Suche nach einem Mikrofilm, oder?“ Pitt und Harry nicken eifrig. „Was wäre, wenn die Zähne dazu gebraucht wurden, um so einen Mikrofilm zu schmuggeln?“

Pitt schlägt sich mit der flachen Hand laut klatschend gegen die Stirn. „Das wäre genial, kein Zöllner der Welt käme auf die Idee, in den Zähnen eines Reisenden nach Schmuggelware zu suchen.“

„In den Zähnen?“ fragt Harry ungläubig. „So was soll funktionieren?“

„Wieso nicht?“ entgegnet Pitt, der es plötzlich eilig hat und ganz kribbelig Gabriela fragt: „Die Zähne hat er sich in Ungarn machen lassen, stimmt das?“

„Ja.“ antwortet sie nach kurzem Überlegen.

„Aber ab und zu richten oder reinigen oder sonst was hat er wo machen lassen? Auch in Ungarn?“

„Ich glaube nicht.“ Gabriela starrt angestrengt in den Himmel und sagt: „Ich bin der Meinung, ich habe mal etwas von einem Zahnarzt hier in Duisburg gehört, aber ich habe keine Ahnung wie der heisst.“

„Das ist scheissegal,“ antwortet Pitt und zieht die beiden in Richtung Parkplatz, wo ihr Dienstwagen steht, „wir fahren ins Büro und rufen alle Zahnärzte an. Einer muss es dann ja wohl sein. Und dem Typen fühlen wir dann gehörig auf den Zahn.“

„Aber er hat ja nichts Verbotenes gemacht, falls er die Zähne gerichtet hat,“ meint Harry beim Gehen.

„Das nicht, aber er hat sicher Unterlagen wie Bilder, Zeichnungen oder Röntgenaufnahmen auf denen wir sehen, ob es irgendwo einen Hohlraum hat, der die Theorie von Gabriela unterstützt oder zunichte macht.“


Beim Wagen angekommen, zeigt sich seit langem wieder einmal ein optimistisches Lächeln auf Pitt's Gesicht.


Finden sie den Zahnarzt?

Stimmt Gabrielas Theorie?

Und wenn ja, was war auf den Mikrofilmen?

1 Kommentar:

piepenhagen hat gesagt…

thumbs up :-)

es wird immer besser !!!!!!

Du schreibst einfach klasse !