Samstag, 17. Oktober 2009

Die Beerdigung

Harry greift sich den Hörer, wählt die Nummer des Zahnarztes und wartet mit klopfendem Herzen darauf, dass die Sprechstundenhilfe Susi Sommer abhebt. Pitt bedeutet Harry unterdessen mit Handzeichen, dass er und Gabriela sich in die Kantine begeben, und dort unten auf ihn warten.

„Zahnpraxis Doktor Brettschneider, guten Tag, Sommer am Apparat,“ meldet sich die Stimme von Susi und Harry wird es ganz mulmig in der Magengegend.

„Ähhhhm, hallo,“ beginnt er zu stottern, „hier ist Harry, ich meine Kriminalnagel, nein, ich wollte sagen, Nagel ist mein Name. Harry Nagel, wissen sie, ich bin der, der vorhin bei ihnen war,“ Harry merkt, wie ihm der Schweiss den Nacken hinunter läuft und er den Zettel mit der Telefonnummer völlig verkrampft in der linken Hand zerknüllt, „wegen der Goldzähne von Moser, wissen sie.“

„Jaaa,“ entgegnet Susi lang gezogen.

„Und ich hätte noch eine Frage dazu,“ haspelt Harry in den Hörer, der ihm aus seiner von Schweiss rutschigen Hand zu fallen droht, „ich wollte sie fragen ob ich sie fragen dürfte,“ was rede ich da eigentlich für eine gequirlte Kacke, geht Harry durch den Kopf, wie ein kleiner Schuljunge, ich stell mich als grössten Idioten der Menschheitsgeschichte hin, das ist nicht zum Aushalten, „äähhm wissen sie, wegen meiner Frage..“

„Ja bitte, ich bin ganz Ohr,“ antwortet Susi geduldig. Die lacht sich über mich krumm, denkt ein immer mehr an sich selbst verzweifelnder Harry, ich kann ihr Grinsen bis hierhin hören, ich habe jetzt schon alles verbockt bei ihr, ich kindischer Idiot, ich.

„Geht es um die Unterlagen von Herrn Moser oder um etwas anderes?“ erkundigt sich die Sprechstundenhilfe freundlich.

„Ja genau...“ antwortet Harry verzweifelt.

„Ja genau? Was denn jetzt genau?“

„Aha, es geht um das Essen mit den Unterlagen, wo sie ihren Chef noch fragen könnten, wegen dem schwarzen Fleck auf den Röntgenbildern, was bei den Ermittlungen weiterhelfen könnte,“ Harry redet inzwischen ohne Punkt und Komma, „und wir zusammen essen weil ich sie einladen möchte sehr gerne nur wenn es sie nicht stört und sie Lust haben....“

„Moment mal,“ unterbricht ihn Susi, „sie wollen mich also zum Essen ausführen?“ Harry nickt während ihrer Worte eifrig mit dem Kopf, „Ok, wann und wo?“

Harry, völlig überrascht von der Antwort, merkt, dass er sich noch gar keine Gedanken über Ort und Zeit gemacht hat, weil er nicht mit einer Zusage gerechnet hat. Er nennt ihr spontan die Pizzeria am Hafen unten und den heutigen Abend nach der Arbeit, von der er sie sehr gerne abholen würde. Susi sagt den Termin zu und verspricht, dass sie ihren Boss noch wegen der Röntgenbilder befragt. Harry wird erst nach mehreren Minuten bewusst, dass er mit einem dümmlichen Grinsen im Gesicht, einem nassen Telefonhörer in der Rechten und der Erkenntnis, dass Susi schon aufgelegt hat, mitten im Büro steht und Löcher in die Luft starrt. Er rennt hinunter in die Kantine um den anderen beiden von seinem cool klargemachten Date zu erzählen. Nach einem kritischen Blick auf sein verschwitztes Shirt und sein gerötetes Gesicht meint Gabriela trocken: „Aha, genau, gaaaaanz cool hast du das gemacht, sicher schon.“ Und dann beginnen Pitt und Gabriela lauthals zu lachen.

Abends sitzen sich Harry und Susi in der Pizzeria an einem gemütlichen Ecktisch bei Kerzenschein gegenüber und geniessen ihre Pizza. Harry ist so in sein Gespräch vertieft, immer stark darauf bedacht nicht wieder so einen Unsinn wie am Nachmittag zu labern, dass er gar nicht merkt, dass Susi ihre Pizza schon gegessen hat, während dem seine noch zur Hälfte und mittlerweile eiskalt vor ihm liegt. Plötzlich blickt Susi angestrengt in die andere Seite des Lokals und sagt zu Harry: „Sag mal, ist das nicht dein Kollege von der Polizei, der dort mit einer jungen Dame am Tisch sitzt?“

Harry schreckt aus seinen Gedanken auf, dreht den Kopf und zuckt zusammen. Tatsächlich, dort sitzen Pitt und Gabriela. Oh nein, denkt Harry, das auch noch, das darf doch gar nicht wahr sein.

„Komm,“ meint Susi mit einem fröhlichen Lächeln im Gesicht, „wir bitten die beiden an unseren Tisch.“

„Nein, nein, das ist nicht nötig,“ beeilt sich Harry zu entgegnen, „die zwei wollen sicher nicht gestört werden. Und ausserdem verstehen wir uns nicht so dolle, er ist im Prinzip mein Vorgesetzter, wir arbeiten nur zusammen, und Pitt hat Gesellschaft nicht so gern......“ Aber Susi ist schon aufgestanden und an dem immer noch verzweifelt brabbelnden Harry vorbei in die Richtung von Gabriela und Pitt gegangen. Kurze Zeit später setzt sich Pitt mit einem kräftigen Schlag auf die Schulter von Harry gegenüber von ihm an den Tisch mit den Worten: „So ein Zufall, dass wir euch beide hier treffen.“

„Ja genau,“ erwidert Harry leicht säuerlich, „die Welt ist schon ein Dorf.“ Seine Augen schicken dabei Blitze in Pitt's Richtung, auf die sogar Göttervater Zeus neidisch gewesen wäre. Nach einem dennoch vergnüglichen und vor allem durch Susi's Informationen über den Hohlraum in einem von Moser's Zähnen sehr hilfreichen Abend verlassen die vier das Lokal und machen sich auf den Heimweg. Auf der Fahrt sagt Gabriela zu Pitt: „Ich finde die Susi ganz nett. Zuerst dachte ich, das sei eine kleine, verwöhnte, eingebildete Tussi. Aber das ist überhaupt nicht so. Sie ist sehr nett und offen. Und sie weiss, worüber sie spricht. Sie hat das Herz am rechten Fleck. Ich mag sie wirklich sehr und ich hoffe für Harry, dass etwas aus den beiden wird.“

Im Wagen von Harry sagt Susi: „Ich finde die Gabriela ganz nett. Zuerst dachte ich, das sei eine kleine, verwöhnte, eingebildete Tussi. Aber das ist überhaupt.....“

Zwei Tage, nachdem die sterblichen Überreste von Felix Moser durch die Gerichtsmedizin freigegeben wurden, findet die Beerdigung unter grosser Anteilnahme und Interesse der Bevölkerung im Zentralfriedhof statt. Obwohl die Polizisten Pitt und Harry und der inzwischen aus Zürich zu ihnen gestossene Kurt mit vielen Menschen gerechnet haben, überrascht sie die riesige Menschenmenge. Um eventuelle neue Hinweise zu erhalten haben sich Pitt und Kurt entgegengesetzt an den Rand der Menge begeben, um einen besseren Überblick zu haben, während Harry zusammen mit Susi bei Gabriela am offenen Grab die Beerdigungs Zeremonie über sich ergehen lässt. Als Harry während der Predigt des Pfarrers seinen Blick schweifen lässt, wird er plötzlich einem zitternden roten Punkt gewahr, der sich langsam am Bauch von Gabriela entlang nach oben in Richtung Brustkorb bewegt. Ach du Scheisse, geht Harry noch durch den Kopf, bevor er sich geistesgegenwärtig gegen die neben ihm stehende Susi wirft. Im selben Moment, in dem Gabriela, Susi und Harry wie Dominosteine gemeinsam zu Boden fallen schreit Harry: „Anschlag!“ in sein Headset, mit dem er direkten Funkkontakt zu Pitt und Kurt hat. Der Buchhalter der Eisenhütten AG, der direkt hinter Gabriela stand, wird von einer Kugel mit voller Wucht in die Brust getroffen und in die hinter ihm stehenden Trauergäste geschleudert. Er ist schon tot, als er zu Boden fällt. Das Geschoss hat sein Herz regelrecht zerfetzt.

Am Grab bricht augenblicklich eine Panik aus, die Menschen stossen und rempeln die in zweiter und dritter Reihe Stehenden zur Seite, die von dem Vorfall direkt am Grab nichts mitbekommen haben und durch die Fliehenden völlig überrascht werden. Dadurch breitet sich das Chaos ringförmig aus. Überall rennen Leute schreiend durcheinander, andere stehen einfach nur völlig verstört und schockiert da, während einige hinter Grabsteinen Schutz und Deckung suchen, obwohl sie nicht wissen, aus welcher Richtung die Gefahr kommt. Während Harry noch schützend auf den beiden Frauen liegt, gibt er Pitt und Kurt geistesgegenwärtig die ungefähre Richtungsangabe, aus welcher der tödliche Schuss abgegeben wurde. Die beiden spurten sofort los und ziehen beim Rennen ihre Waffen aus dem Schulterholster. Nach wenigen Augenblicken sieht Kurt aus dem Augenwinkel hinter einem frisch aufgeworfenen Grabhügel ein Gewehr mit Zielfernrohr liegen. Das muss dem heimtückischen Schützen gehört haben. Sofort alarmiert Kurt die am Rande des Friedhofs positionierte Polizeieinheit über Funk über den Fundort, damit die Kollegen das Korpus delicti sicherstellen können. Pitt sieht zweihundert Meter vor sich einen in einen schwarzen Jogginganzug Gekleideten, der wieselflink zwischen den Grabreihen in Richtung Nordportal flüchtet. Das ist das Schwein, denkt sich Pitt, ich kriege dich, und schreit seine Beobachtung ins Headset, dass Kurt darauf reagieren kann. Auch er hat den Flüchtenden ausgemacht, und versucht nun noch schneller zu rennen, um den Attentäter zu erwischen. Etwa fünfzig Meter neben sich sieht er Pitt wie einen Kurzstreckensprinter über den schmalen Kiesweg spurten. Die Augen fest auf seine Beute gerichtet, holt er das Letzte aus seinem Körper raus.

Harry hat sich unterdessen davon überzeugt, dass den beiden Frauen nichts geschehen ist, und informiert seine beiden Kollegen über das Headset, dass die beiden abgesehen von einem leichten Schock in Ordnung sind und er sie jetzt sofort aus der Gefahrenzone in Sicherheit bringt. Pitt und Kurt nehmen diese Nachricht innerlich mit einem tiefen Aufatmen zur Kenntnis und konzentrieren sich wieder voll und ganz auf die Verfolgung.

Der Attentäter hat mittlerweile den Ausgang erreicht und verschwindet links um die Ecke hinter der Mauer auf dem Gehsteig, der neben der am Friedhof vorbei führenden Hauptstrasse liegt. Das darauf ertönende Hupkonzert deutet darauf hin, dass er rücksichtslos vor die fahrenden Autos auf der Strasse sprintet. Kurz darauf erreichen praktisch gleichauf Pitt und Kurt den Ausgang, rennen hindurch und versuchen, den Flüchtenden zu finden. Sie sehen gerade noch, wie er auf der anderen Strassenseite in einen mit laufendem Motor wartenden Wagen hechtet, der mit durchdrehenden Reifen quietschend davonrast und das nächste Hupkonzert auslöst, weil er dem rollenden Verkehr knallhart in den Weg fährt. Pitt zieht seinen Dienstausweis aus der Innentasche seiner Jacke und wedelt damit in der Luft herum. Kurt und er stellen sich mitten auf die Strasse und halten den ersten Wagen an, der frontal auf sie zu fährt. Kurt reisst die Fahrertüre auf und schreit den völlig verdutzten Fahrer an: „Raus hier, Polizeieinsatz, ihr Wagen ist konfisziert!“

Der Fahrer wechselt mit seinem Blick verständnislos zwischen Kurt und Pitt hin und her, dann zu den gezogenen Waffen der beiden und zum Ausweis, den Pitt, mittlerweile schon auf der Beifahrerseite eingestiegen, immer noch in der Hand hält, zurück in das gerötete Gesicht von Kurt. Er will gerade zu einem Nein, was soll der Scheiss ansetzen, als er schnell und kompromisslos von Kurt am Jackenkragen gepackt, und mit einem harten Ruck aus dem Auto gerissen wird. Als er sein Gleichgewicht wieder gefunden und sich umgedreht hat, drückt Kurt schon das Gaspedal bis zum Anschlag durch und lässt den zutiefst erschrockenen Besitzer mitten auf der Strasse in einer stinkenden Qualmwolke, die die durchdrehenden Reifen erzeugen, stehen.

„Hast du das Fahrzeug oder die Zulassung erkannt?“ fragt Kurt Pitt, während er sich mit einer Hand anschnallt und mit der anderen steuert.

„Das Kennzeichen nicht, aber den Wagen. Das war ein Dodge. Ein Dodge Caliber. Schwarz,“ antwortet Pitt und gibt eine Ringfahndung an alle Polizeidienststellen durch.

„Ok,“ meint Kurt, „so ein Wagen ist nicht unauffällig. Also Augen auf, wir erwischen diese Schweinehunde.“

Kurt lässt kurz seinen Blick über die Armaturen des „entliehenen“ Wagens schweifen und meint dann mit einem schelmischen Lächeln zu Pitt: „Wäre gelacht, wenn wir die nicht erwischen. Wir sitzen nämlich in einem Audi R8 Spyder. Und der hat einiges mehr an Dampf unter der Haube als der schwerfällige Ami-Eisenhaufen.“ Pitt deutet in dem Moment mit dem Finger nach vorne auf die Strasse und sagt: „Ich glaube, ich sehe den Wagen da vorn.“ Kurt kneift die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, schaut in die von Pitt angegebene Richtung und beginnt leicht zu lächeln.

„Bingo,“ meint er kurz und trocken, „und wenn wir die Scheisser dingfest gemacht haben, dann darfst du auch eine Runde mit dem Wagen hier drehen.“

Kurt und Pitt schauen sich kurz mit einem siegessicheren Lächeln an, und dann holt Kurt das Letzte aus dem Wagen heraus.

Erwischen die beiden die Täter?

Wie geht es den Frauen und Harry?

Darf Pitt wirklich eine Runde in dem Audi drehen?

3 Kommentare:

railway hat gesagt…

A la bon h´heure! Gut geschrieben! Einfach klasse!

piepenhagen hat gesagt…

platt bin, das ist genial.

geschichtenerzähler hat gesagt…

Ich danke euch beiden für die nette Kritik ;-)
Bin schon heftigst gespannt, wie es weitergeht :-)